Erfahrung gemeinsam nutzen: Lösungsgestaltung und Partizipation im Projekt IN-KNOW

Mit Protoypen auf mögliche Arbeitswelten blicken

Etwas zögerlich tippt sich der Fertigungsmitarbeiter durch die Oberfläche. „Das sieht alles ganz gut aus.“, murmelt er, während er die unterschiedlichen Funktionen erkundet. „Kannst du uns sagen, was dir gerade durch den Kopf geht?“ Der Mitarbeiter schmunzelt und versucht die richtigen Worte zu finden. Diese Übung, also zu explizieren und zu beschreiben, was man gerade macht – wir kennen es alle – scheint manchmal gar nicht so leicht zu sein. Die neue Anwendung, über die er sprechen soll, ist ein Prototyp, das heißt die zunächst noch nicht-funktionale Fassade einer zukünftigen Wissensmanagement-App. Der testende Mitarbeiter versucht sich intuitiv mit den Funktionen vertraut zu machen. Mit dem Prototyp sollen die zentralen Funktionen getestet werden, die in einem gemeinsamen Prozess in den vorangegangenen Tagen entwickelt wurden.

Industriebetriebe im deutschen Mittelstand, insbesondere die Kernbereiche in Fertigung und Montage, stehen unter mehrfachem Druck: Demografischer Wandel und Fachkräftemangel treffen auf fehlende Orientierung hinsichtlich der digitalen Transformation und verlässlicher Prognosen zukünftiger Marktbedingungen. Der Erfolg und die Anpassungsfähigkeit von KMU stützt sich im Kern auf eine lebendige Facharbeiterkultur, die ein hohes Maß an Kompetenz, Präzision und Qualität sicherstellt. Ein wichtiger Teil dieser Kultur ist der Aufbau und auch die Weitergabe von Spezial- und Erfahrungswissen, die oft informell ablaufen. Die Ausgangsthese des Projekts IN-KNOW ist, dass genau solche eingeübten Wissenspraktiken ein wichtiger Baustein sind, um die Herausforderungen des Mittelstands zu bewältigen. Gleichzeitig geraten diese Wissenskulturen zunehmend an ihre Grenzen, was Unternehmen alarmiert, wie beispielhafte Fälle deutlich machen: Wer soll das Wissen weitergeben, wenn der altgediente Wissensträger in Rente geht, ein geeigneter Nachfolger aber noch nicht gefunden ist?

Die schnelle und effiziente Verfügbarkeit von Wissen ist damit entscheidend für die zukünftige Zusammenarbeit in mittelständischen Unternehmen. Nur: Wie kriegen wir das hin? Antworten könnten arbeitsintegrierte, digitale Zugriffslösungen liefern, die intuitives Lernen ermöglichen, eigenständige Problemlösung sowie die effiziente Organisation betrieblicher Abläufe abbilden können. IN-KNOW ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit dem Ziel, eine solche Wissensplattform für Industrie und Handwerk zu entwickeln.

Brückenbau zwischen Datenverarbeitung und Erfahrungswissen

Die Grundidee unseres Ansatzes ist die Beobachtung, dass sich Wissensmanagement-Tools oft nur auf einen den formalisierten Teil des in einer Organisation vorliegenden Wissens konzentrieren. Das ist nachvollziehbar, eine solche Ausrichtung zielt aber am Bedarf in den Werkstätten und Montagehallen vorbei: Hier geht es oft um professionalisierte Erfahrung, die verkörperlicht ist. Der einflussreiche Sozialphilosoph Polanyi spricht in diesem Zusammenhang von „tacit knowledge“, dem impliziten Wissen, also ein Können sowie Kompetenzen und Fähigkeiten, die kaum oder gar nicht mit Sprache ausgedrückt werden, damit einer Formalisierung weitgehend unzugänglich sind.

Um zu untersuchen, ob und wie eine technische Lösung bei der Aufrechterhaltung und Weitergabe solcher Wissensvorräte Unterstützung leisten kann, stützt sich unsere Forschung auf einen intensiven Untersuchungs- und Analyseprozess. Unser Team erprobt neue Ansätze und untersucht Arbeitssituationen und Lernprozesse in mittelständischen Betrieben. Mit unseren Erkenntnissen und unter Beteiligung von Mitarbeitern planen wir ein KI-gestütztes, intuitives und dynamisches Wissens- und Lernsystem aufzubauen.

Gleichzeitig möchten wir die Brücke zur Digitalisierung schlagen, denn bisher werden im betrieblichen Wissensmanagement die Möglichkeiten der Datenverarbeitung zu wenig berücksichtigt. Indem (1) bestehende Daten mit (2) formalisierten Informationen (z.B. Handbüchern oder Arbeitsanweisungen) sowie (3) Erfahrungswissen (Hinweise, Tricks oder Angaben darüber „wie man das halt so macht“) zusammengebracht werden, erzeugt die Plattform Mehrwerte für alle Mitarbeiter.

„Understand, Sketch, Decide, Prototype, Validate“

Die Durchführung von Design Sprints ist einer unserer Versuche, beide Ansprüche zu verbinden und gleichzeitig der Lösungsentwicklung ein Stück näher zu kommen. Was ist ein Design Sprint? Im Kern stellt der Design Sprint ein Entwicklungsformat mit Fokus auf Kooperation verschiedener Stakeholder und User Experience dar. Das Format wurde in der Innovationschmiede „Google Ventures“ erdacht. Erfinder Jake Knapp nennt den Design Sprint ein „Fast Forward“, also einen Schnellvorlauf zu einem neuen oder verbesserten Feature, um die Reaktionen von Nutzer:innen zu testen, ohne mit hohem Risiko den Aufwand, inklusive Zeit und Ressourcen zu investieren, die eine solche Entwicklung üblicherweise erfordern würde. Zentrales Anliegen: Prototypenentwicklung in wenigen Tagen mit aufeinander aufbauenden Schritten umsetzen.

Der Prozess startet damit, die interessierende Problemlage zu verstehen und zu visualisieren. Innerhalb des Problems wird eine Zielrichtung ausgewählt und zu dieser Frage werden schon am Folgetag Lösungen skizziert. Die Lösungsvorschläge werden gegenübergestellt, sodass Vor- und Nachteile diskutiert werden können. Hier steht ein strukturierter Entscheidungsprozess im Vordergrund, der der Gruppe ermöglicht zügig einen Entwurf auszuwählen. Dieser Entwurf wird in einen realistischen Prototyp überführt, der zum Abschluss des Formats mit relevanten Personen getestet wird.

Das Format Design Sprint ist in unserem Projekt in mehrfacher Hinsicht sinnvoll. Soziologisch betrachtet verwandelt die Sozialtechnik des Sprints die zentralen Probleme unserer Anwendungsentwicklung – das Akzeptanzproblem und das Wissensproblem – in ein Gestaltungsproblem. Und für Gestaltungsprobleme gibt es erprobte Lösungen. Unser Vorschlag lautet also, von der Akzeptanz zur Partizipation, also ins Handeln zu kommen. Die unmittelbare Einbindung, das gemeinsame Erfahren und Erleben von möglichen, zukünftigen Veränderung ist produktiv und verfügt gleichzeitig über akzeptanzförderliche Effekte. Insbesondere in kleinen Betrieben ist dies gut mit Schlüsselpersonen zu bewerkstelligen.

Wissensarbeit an der Werkbank

Um uns diesem Dreiklang zu nähern, sondieren wir das Feld anhand zweier Fälle. Bei unseren Partnern, den Experten für Minimalmengenschmierung HPM Technologie in Dettingen an der Erms sowie den auf die Montage von Kühlfahrzeugen spezialisierten Kress Fahrzeugbau in Meckesheim (beide in Baden-Württemberg), fragen wir uns: Welche Arten und Weisen zu Wissen finden wir vor? Welche sind für Wissensmanagement relevant? Woran könnte eine zukünftige Lösung scheitern, welche Bedenken haben Mitarbeiter? Wir erfahren mehr über die Hürden zur Weitergabe von Wissen, mögliche Akzeptanzprobleme und erarbeiten auf Endnutzer und Betriebe zugeschnittene Lösungen.

Erwartete Hürden sind vielfältig, hier haben wir es mit technischen, aber auch sozialen wie organisatorischen Faktoren zu tun. Zum Beispiel ist die Wichtigkeit des Wissens für den Alltag vielen Mitarbeitern individuell nicht bewusst – das liegt in der Natur der Sache: So macht man das halt, warum soll man das festhalten oder darüber sprechen? Vor allem in Ausnahmesituationen, wie das Erlernen neuer Tätigkeiten oder auch in Krisenfällen, scheint die Wichtigkeit des Wissens auf. Andererseits beobachten wir vielfältige Formen von Wissensarbeit, die nicht am Schreibtisch, sondern an der Werkbank stattfinden: Mitarbeiter pflegen Wissenssammlungen, Mappen und Notizen, machen Fotos und andere Aufzeichnungen. Organisationen unterschätzen oft den Wert dieses Wissens für die eigene Transformation. Hier wollen wir ansetzen, um die individuelle Wissensarbeit aufzuwerten und von der abgegriffenen Mappe in eine arbeitsintegrierte, für alle verfügbare Anwendung zu überführen.

Wir kombinieren dabei einen User Centered Design-Prozess mit sozialwissenschaftlicher Integrierter Forschung im Kontext kollaborativer Technikentwicklung. Der User Centered Design-Prozess zeichnet sich durch einen iterativen Ablauf aus, bestehend aus aufeinander aufbauenden Phasen der Analyse, des Entwerfens und der Evaluation. Integrierte Forschung ist ein Ansatz mit wachsender Relevanz, der sicherstellen will, dass alle relevanten Gruppen am Entwicklungsprozess partizipieren und dass soziale sowie ethische Aspekte berücksichtigt werden.

Adaption des Design Sprint-Formats

Dennoch wurden einige Anpassungen notwendig, sodass im Projekt IN-KNOW eine Adaption des „klassischen“ Formats zum Einsatz kommt. Zunächst re-definieren wir die Zielsetzung des Design Sprints: Aus dem Entwicklungsformat wird ein kombiniertes Beteiligungs- und Gestaltungsformat. Der Kreis der beteiligten Stakeholder wird flexibel erweitert, so können je nach Kontext Vertreter der späteren Endnutzer schon von Anfang an teilnehmen und werden nicht erst bei den User Tests hinzugezogen.

Der reichhaltige Forschungsprozess bereitet ein vertieftes Grundverständnis der Abläufe vor Ort vor, sodass der Design Sprint auf vier Tage verkürzt werden kann. In der ersten Workshop-Phase haben wir geeignete, idealtypische Wissensszenarien identifiziert, analysiert und einem „Mapping“ unterzogen, das heißt strukturiert und visualisiert. Die Struktur erlaubt es, die Problemlage präzise zu bestimmen und in einem kreativen Prozess über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken. Neben der Konzentration auf gegenwärtige Prozesse lässt sich die Ausgangsstruktur auch über geteilte Zukunftsvisionen erarbeiten, indem erfragt wird, welche Erwartungen an zukünftige Lösungen gestellt werden (eine geeignete Methode nennt sich „How Might We“).

In der nächsten Stufe skizzieren wir zusammen mit Anwendern und Entwicklern Lösungsideen und diskutieren deren Vor- und Nachteile. Der Begriff Skizze ist wortwörtlich zu verstehen: Indem Teilnehmer ermuntert werden, ihre Ideen visuell zu protokollieren, aufzuzeichnen oder stichpunktartig festzuhalten, können Austausch- und Entscheidungsprozesse an konkreten Sachverhalten festgemacht werden. Methodische Interventionen sorgen dafür, dass die Diskussion zielgerichtet verläuft und nicht „ausufert“.

Prototyping Knowledge Interfaces

Kern des Design Sprints ist das Prototyping und die darauffolgenden Test-Sessions mit Endnutzern. Für das Prototyping gibt es verschiedene Tools auf dem Markt (z.B. ProtoPie) mit denen sich schnell und einfach komplexe Funktionalitäten abbilden lassen, z.B. audiovisuelle Aufnahmen oder Abhängigkeiten in der Menüführung. Diese sehen zwar aus wie eine fertige App, bieten aber keine Funktionalität, dafür aber ein Gespür dafür, wie eine spätere Anwendung genutzt werden könnte. Der Design Sprint Prototyp ist wie die Filmkulisse einer Westernstadt. Umso bemerkenswerter ist, dass sich durch die User-Tests valide Ergebnisse erzielen lassen.

Beobachten lässt sich hier beispielsweise, wie Testpersonen unterschiedlicher Gruppen teilweise konträre Ansprüche und Erwartungen an eine Anwendung stellen. Diese Unterschiede sind zwar erwartbar, im Detail jedoch sehr aufschlussreich für die konkrete Planung der nächsten Entwicklungsschritte. Die Aufzeichnungen der Tests sind nicht nur für Design und Entwicklung, sondern auch für die sozialwissenschaftliche Forschung bedeutsam: Es zeigen sich Bewertungskriterien, Deutungsmuster und Aneignungsstrategien von Arbeitsinterfaces. Ein Ergebnis ist, dass Anwendungen im hochindividuellen Bereich der Wissensarbeit von Mitarbeitern die nötige Flexibilität bereitstellen sollten, um verschiedene Nutzungsszenarien und Strategien abbilden zu können.

Gleichzeitig wird deutlich, dass der Design Sprint nur einer von vielen Schritten hin zu „innovativen Arbeitswelten im Mittelstand“ sein kann. Wir brauchen viel mehr ein erweitertes Methodenset, in das der Design Sprint eingebettet werden kann. Dieses kann sich nach unseren Erfahrungen aus einzelnen Elementen aus Design, Sozialwissenschaft und IT speisen. Der Design Sprint hilft vor allem dabei, schnell und konzentriert zu soliden Ergebnissen zu kommen, der Vorteil der örtlichen Zentrierung liegt auf der Hand: Die User sind von Anfang an eingebunden, können mitentwickeln, testen und ihr Feedback abgeben – alles innerhalb weniger Tage oder sogar Stunden.

Ein praxistaugliches Tool?

Im experimentellen Umfeld des Forschungsprojekts evaluieren wir die Vor- und Nachteile des Design Sprints für den Einsatz in industriellen KMU: Neben der verbesserten Kollaboration zwischen den unterschiedlichen beteiligten Disziplinen und Kompetenzgruppen sind vor allem die Fülle an schnellen Ergebnissen ein großer Vorteil. Die Entscheidung zwischen verschiedenen skizzierten Lösungen fällt schwer; glücklicherweise ist jede Entscheidung potenziell nur temporär: Die anderen Ansätze sind weiter verfügbar und wir können sie in späteren Entwicklungsschritten erkunden. Zusätzlich werden Pfadabhängigkeiten frühzeitig durchschaubar. Insgesamt verringert das Format Risiken von Fehlentscheidungen und macht den User Centered Design-Gedanken stark. Das gemeinsame Erfahren und Erleben von Kreativität und Innovationskultur kann auch langfristige Effekte auf Akzeptanz und Arbeitskultur haben.

Was gleichzeitig auf Nachteile des Formats hindeutet, denn sein Wirkungskreis ist oftmals begrenzt. Der eigentliche Sinn des Formats ist es, die Reichweite und Komplexität der zu bearbeitenden Fragen möglichst zu beschneiden, um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen. Das kann auf Beteiligte enttäuschend oder ermüdend wirken. Die Zeit ist knapp und der Kreis der Stakeholder, die beteiligt werden können, ist begrenzt. Das macht das Format aus, birgt aber auch Risiken: Stakeholder können ihre individuellen Standpunkte hervorheben, was zu einem Bias im Gesamtprozess führen kann. Dem kann man nur durch eine kluge Auswahl der beteiligten Perspektiven begegnen, aber nie ganz ausschließen.

Am deutlichsten allerdings zeigt sich, dass der Design Sprint noch nicht für alle Kontexte geeignet ist. Neben unseren zeitlichen und inhaltlichen Adaptionen scheinen weitere Anpassungen und neue Rezepte notwendig zu sein, um Sprache, Gestaltung, Ressourceneinsatz und die generelle „Atmosphäre“, die der Prozess vermittelt, an die Erfordernisse mittelständischer Betriebe anzugleichen. Dann kann der Design Sprint ein praxistaugliches Puzzlestück sein, was über unsere Untersuchung hinaus helfen kann, arbeitsintegrierte Anwendungen nah an den Bedürfnissen der Endnutzer zu entwickeln und die Herausforderungen anstehender Transformationen anzugehen.

Mit Fokus auf Einfachheit und Effizienz kombinieren wir als Projekt IN-KNOW mit solchen Maßnahmen Forschung, IT sowie Design und schaffen neue Wege, Wissensaustausch zu ermöglichen. Das Projekt wird als Teil der Förderlinie „Innovative Arbeitswelten im Mittelstand“ vom BMBF gefördert und läuft über zwei Jahre. Weitere Informationen und eine Übersicht der beteiligten Partner findet sich auf unserer Website https://in-know.de.

Autor

Benjamin Doubali M.A.Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Soziologie
Arbeitsbereich Mediensoziologie u. Gesellschaftstheorie
Isaac-Fulda-Allee 2b
D-55124 Mainz

Tel.: +49 (0)6131-39-28384

bdoubali@uni-mainz.de

Dank an René Fleischer und Tim Schneider (CaderaDesign) für die fachlichen Infos zum Design Sprint-Format